Wie gehen die Fußballprofis des FC Bayern und dem BVB vor dem Champions League-Finale mit dem Druck um? Wie sollten sich beide Mannschaften in der Endphase nun aus mentaler Sicht optimal vorbereiten? Mentalcoach und Profisportexperte Steffen Kirchner nimmt Stellung und analysiert die Tage vor dem großen Spiel.
Die Dortmunder sind mal wieder eines der Überraschungsteams der Saison. Ihr Ansehen in der Fußballwelt ist deutlich gestiegen und sie haben schon jetzt das Wichtigste gewonnen: den Respekt der Fans – unabhängig davon, ob sie das Finale gewinnen oder nicht. Anders ist die Situation beim FC Bayern: Eine Niederlage in der Königsklasse wäre nicht nur eine Wiederholung der Jahre 2012 und 2010. Für die Münchner steht noch viel mehr auf dem Spiel. Sollten sie am Samstag nicht als Sieger vom Platz gehen, würden sie nicht nur das Spiel, sondern ihren Rang als deutsches Topteam verlieren. Und genau dazu haben die Verantwortlichen des FC Bayern vor kurzem erst Stellung bezogen. Nach dem Sieg gegen den BVB in der Bundesliga und dem Gewinn der Meisterschaft war man sich in München einig, dass der Verein die Machtverhältnisse im deutschen Fußball nun wieder klar zurecht gerückt habe und dass er nun wieder die Nummer 1 in Deutschland sei. Wen aber würde der FC Bayern als die Nummer 1 in Deutschland interessieren, wenn Borussia Dortmund die Nummer 1 in Europa wäre?
Für den FC Bayern geht es um alles – um die Krönung der Saison, um die Vormachtstellung in Deutschland und Europa, um sehr viel Ehre, um eine Wiedergutmachung der letzten Finalniederlagen und um die Bekämpfung des „Vizekusen-Syndroms“, das ihnen letzte Saison angedichtet wurde.
Fakt ist: Wenn der FC Bayern dieses Finale verliert, verliert der Verein 80 Prozent des gesamten Glanzes der kompletten Saison. Hinzu kommt, dass er das Finale ausgerechnet gegen die deutsche Mannschaft gewinnen muss, die ihnen seit zwei Jahren die Vormachtstellung als das deutsche Top-Team streitig macht. Im Lager des FC Bayern hat sich mit Sicherheit niemand ein direktes Aufeinandertreffen mit dem BVB in der Champions League, und schon gar nicht im Finale gewünscht. Anders dagegen die Haltung in Dortmund, wo die meisten auf das Aufeinandertreffen der beiden deutschen Teams hofften. Der Grund: Mit diesem einen Spiel könnte der BVB die komplette und vom Tabellenbild her eklatante Saisonniederlage gegen den FC Bayern vergessen machen. Und Jürgen Klopp macht Dortmunds Situation in seinen Interviews geschickt deutlich, indem er sein Team aus der Favoriten- und Erwartungshaltung heraus- und die Bayern im Gegenzug großredet. Bestes Beispiel dafür ist seine Aussage: „Wir sind nicht die beste Mannschaft der Welt. Aber wir wollen die beste Mannschaft der Welt schlagen.“
So sollten sich beide Teams in der Endphase optimal auf das große Finale vorbereiten
- Keine Gegneranalyse mehr, sondern nur noch egozentrisches Training.
- Keine Fehleranalyse mehr, sondern nur noch Training der eigenen Stärken sowie Stabilisierung und Automatisierung von spielerischen Stärken des Einzelnen und des Teams.
- Visualisierungstraining mehrmals am Tag, wodurch die Spieler den Erfolg nicht nur denken, sondern sehen und fühlen (Unterstützung durch Film und Musik).
- Ausschalten von Emotionen bei intensiver Motivation und kühlem Kopf. Keine Rangeleien, keine Rudelbildung, kein Schimpfen gegen den Schiri, kein großer Jubel. Jede Aktion so intensiv spielen, wie in der jeweiligen Sekunde gerade möglich.
Mit Konzentration, Sicherheit und dem Bewusstsein über die eigenen Stärken in den Flow
Je näher es an den Finaltag geht, desto mehr dürfen sich die Mannschaften nur noch mit ihren Stärken beschäftigen. Die Analyse und Beseitigung der eigenen Fehler sowie die Analyse der gegnerischen Stärken – all das hat in den letzten Tagen und Wochen stattgefunden. Jetzt allerdings, in den letzten Tagen vor dem Spiel, sollten die Teams den Fokus nur noch auf das legen, was das eigene Team in den letzten Monaten und Jahren so außergewöhnlich stark gemacht hat.
Um in Topform und in einen Spielfluss zu kommen, braucht eine Mannschaft Sicherheit. Diese Sicherheit wird nicht dadurch erreicht, indem man sich darauf konzentriert, Fehler zu vermeiden und Schwächen des Gegners zu nutzen. Sicherheit gewinnt ein Team dadurch, indem es sich auf seine eigenen Stärken konzentriert und diese technisch, taktisch, spielerisch und mental einsetzt. Im Training ist es aus sportpsychologischer Sicht wichtig, überwiegend (nicht ausschließlich) nur noch das zu trainieren, was das Team bereits gut beherrscht, um es noch weiter zu stabilisieren und zu automatisieren. Jedes Team, jeder Spieler muss sich einzig und alleine auf die Qualität seiner eigenen Aktionen konzentrieren. Hierbei gilt es, ins Detail zu gehen. Jeder einzelne Pass, jeder Sprint, jeder Zweikampf muss hierbei maximal intensiv und mit höchster Qualität ausgeführt werden. Darauf muss die gesamte Aufmerksamkeit ausgerichtet werden.
Zwei Vorteile im Flow-Zustand: Alte Gedanken und Gefühle werden ausgeblendet, und die eigene Spielqualität steigt
Das Gehirn kann nur an eine Sache gleichzeitig denken. Wer sich auf seine jeweils auszuführende Situation maximal intensiv konzentriert (auch wenn er den Ball gerade nicht hat), kann gleichzeitig nicht an Vergangenheit, Zukunft, Spielstände oder die Stimmung der Fans denken. Die Shaolin-Mönche nennen es die Fokussierung auf das Chi. Im Sport spricht man von „Flow“ oder „in the zone“. Gemeint ist der Moment, in dem ich alles um mich herum vergesse, im dem alles automatisch und mit hoher Qualität von der Hand geht. Diesen Flow, den gute Mannschaften häufiger erreichen als schlechte, kann man nicht mit Willenskraft erzwingen.
Den Flow-Zustand kann man nur erreichen, wenn man äußere Einflüsse und Umstände (Champions League-Finale, Außenseiter- oder Favoritenrolle, Fanrufe oder Pfiffe, Ängste etc.) ausblendet. Das schaffen die Spieler nur, indem Sie sich „im Tun verlieren“, indem sie sich zu 100 Prozent auf genau das fokussieren, was genau in dem Moment abläuft. Wenn die volle Aufmerksamkeit gepaart mit maximaler Intensität auf das Hier und Jetzt ausgerichtet ist, können die Spieler für bestimmte Zeitphasen in den Flow-Zustand kommen und über sich hinauszuwachsen.
„Erst treffen, dann zielen“: Mit Visualisierungstraining Motivation verstärken
Eine wirkungsvolle Unterstützung bei der mentalen Vorbereitung ist das Visualisierungstraining, bei dem die Spieler täglich zwei bis drei kurze Einheiten von maximal zehn Minuten mit Spielsituationen anschauen und durch die Wiederholung verinnerlichen. Diesen Highlightfilm mit den Best-of-Szenen soll jeder Spieler nutzen, um sich das für ihn perfekte Champions League-Finale vorzustellen. Jeder Einzelne ist aufgerufen, sich seine besten Situationen im Spiel vorzustellen und diesen ganz persönlichen Film immer wieder vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen. Sie müssen ihre Top-Aktionen im Vorfeld fühlen, sie müssen die Tore geistig schon geschossen haben, bevor das Spiel startet. Dadurch werden Bewusstsein und Unterbewusstsein auf Erfolg programmiert. Um diesen Highlightfilm emotional noch zu verstärken, kann er zusätzlich mit entsprechender Musik unterlegt werden.
Diese Vorstellungen müssen so real wie möglich imaginiert werden. Dabei kann es helfen, sich die Geräuschkulisse vorzustellen, Düfte zu riechen, Wind, Sonne und Temperatur zu spüren, Klänge und Torjubel zu hören und vor allem das Gefühl zu erleben, das man hat, wenn man gerade das Tor geschossen, den Pass erfolgreich gespielt oder den Zweikampf gewonnen hat.
Von Emotionen abkoppeln und Gefühle außen vor lassen
Ab dem Anpfiff sollten Emotionen mit Hilfe von mentalen Techniken möglichst abgekoppelt werden, um das Bewusstsein nicht zu stark zu beeinflussen und den Fokus vollkommen ins Hier und Jetzt zu verlagern. Dies gilt sowohl für negative als auch für positive Erlebnisse, zumal sich das Unterbewusstsein nicht einseitig manipulieren lässt. Entweder ich spiele auf der Klaviatur der Emotion oder nicht. Das sorgt dafür, dass Spieler und Trainer nicht zu hitzköpfig werden und unnötige Fouls durch übertriebene (und übermotivierte) Härte oder sogar Platzverweise vermeiden. Sowohl nach einem Gegentor als auch nach einem eigenen Tor heißt es also: Realisieren, akzeptieren, weiterspielen – bis zum Abpfiff bzw. bis der letzte Elfmeter geschossen ist.