Mythos Disziplin – Warum Selbstdressur nicht zum Ziel führt

Anfang Dezember des letzten Jahres las ich im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung eines Morgens folgendes Zitat zum Thema Selbstdisziplin: „Sich selbst bekriegen ist der schwerste Krieg. Sich selbst besiegen ist der schönste Sieg.“ Typisch. Hat man keine Gegner parat, kämpft man gegen sich selbst. Ob dieser Kampf gegen das eigene Ich, zu irgendeinem sinnvollen Ziel, geschweige denn zu Glück und Erfolg führt, bezweifle ich sehr stark. Was wirklich zu diszipliniertem Handeln führt, möchte ich gerne mit Ihnen in diesem Artikel näher beleuchten.Es wird auch heuer wieder so sein im letzten Jahr und in den Jahren zuvor: Zum Jahresende, wo das schlechte Gewissen der Menschen regelmäßig seinen Höhepunkt erreicht, kommen sie wieder, die Grundsatzdiskussionen über Disziplin, Moral und gute Vorsätze. Geschwängert durch Gewissensbisse, die in der Vorweihnachtszeit im Rahmen großangelegter Spendenaktionen von TV- und Radiosendern für notleidende Menschen stetig verstärkt worden sind (natürlich rein aus Gründen der Nächstenliebe), treibt die Menschen hierzulande folgende Frage an: „Was kann ich nur tun, um meine Vorsätze und Ziele zu erreichen, damit das nächste Jahr besser wird als das letzte?“

Zugegebnermaßen – diese Frage ist wichtig. Die Antwort darauf wird auch gleich allerorts in Wort, Bild und Schrift serviert: „Lernen Sie, disziplinierter zu sein!“ Na bravo. Problem erkannt und somit scheinbar schon halb gelöst. Es muss ausgemistet werden im eigenen Leben. Plätzchen und Schokonikoläuse wirft man samt seiner allgemeinen Laid-back-Lebenseinstellung weg, denn jetzt regieren Mrs. Moralkeule und Mr. Selbstkontrolle. Die durchschnittliche Lebenserwartung dieses inneren, mentalen Moralapostels, liegt allerdings nicht mal im Tages-, sondern eher im Stundenbereich. Warum? Weil Disziplin nicht der grundlegende Erfolgsfaktor für menschliche Topleistungen ist!

Gleich vorab zur Klarstellung ein paar Antworten auf typische Fragen, die Sie mir wahrscheinlich jetzt innerlich an den Kopf werfen wollen:
Frage 1: Wollen Sie damit sagen, dass Disziplin unwichtig ist?
Antwort: Nein!
Frage 2: Glauben Sie im Ernst, dass man irgendwas im Leben ohne Disziplin schaffen kann?
Antwort: Nein!
Frage 3: Behaupten Sie etwa, dass man undiszipliniert und trotzdem erfolgreich sein kann?
Antwort: Nein!
Es geht nicht darum, Disziplin als unwichtig oder gar unsinnig darzustellen, sondern viel mehr darum, zu erkennen was sie tatsächlich ist und wie sie nachhaltig und vor allem natürlich entsteht! Damit Sie verstehen worauf ich hinaus will, hier eine kurze, reale Geschichte:

Dr. Isa Ardey – Die Unermüdliche

Isa Ardey, ist Deutschlands älteste Studentin und hat einen erstaunlichen Rekord aufgestellt. Im Alter von 98 (!) Jahren promovierte Frau Doktor Ardey im dritten Anlauf. Mit 87 Jahren machte sie ihren Magister in Germanistik, elf Jahre später nun die Promotion an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Ardey hatte im Laufe ihres Lebens bereits zwei Dissertationen begonnen, diese aber wegen persönlicher und beruflicher Gründe nicht fertig gestellt. Dass sie dies nun nachgeholt hat, begründete sie mit den Worten: „Einmal Angefangenes sollte man auch zu Ende bringen.“ Für ihre erfolgreiche Dissertation entwickelte sie ein Notationssystem, für das sie jeden der 12.111 Verse von Goethes „Faust“ untersuchen, zeichnerisch umsetzen, analysieren und auswerten musste. Selbst eine Augenkrankheit konnte Isa Ardey nicht von ihrem dritten Anlauf zum Doktortitel abhalten. Das Magazin FOCUS interviewte die Goethe-Begeisterte:
FOCUS: Woher nahmen Sie die Kraft und Disziplin für Studium und Promotion neben Arbeit und Familie?
Ardey: Eine offene Haltung Neuem gegenüber ist eine prinzipielle Einstellung, zumal neue Erkenntnisse stets einen gewissen „Kick“ beinhalten.
FOCUS: Was bleibt nach Erreichen des Lebensziels?
Ardey: Es stellt sich ja die Frage, ob das Ziel erreicht ist. Goethe bleibt immer interessant.
(Pressemeldung über Isa Ardey)

Nun meine Frage an Sie: Ist Isa Ardey diszipliniert? Natürlich, und wie! Doch die entscheidende Frage ist: Warum? Nicht um der Disziplin willen! Sondern weil sie etwas tut, wofür sie absolute Leidenschaft empfindet (Erfolgsfaktor 1: „Begeisterung“) und sich gleichzeitig mit der Promotion ein sehr hohes Ziel gesetzt hat (Erfolgsfaktor 2: „Träume/Visionen“).

Disziplin entspringt einer Quelle – sie ist nicht die Quelle!

Sobald Sie etwas tun, wovon Sie durch und duch begeistert sind und wofür Sie innerlich unendlich brennen, werden Sie automatisch eine disziplinierte Verhaltensweise an den Tag legen, sobald Sie Ihre innere Leidenschaft auf ein großes Ziel bzw. einen Traum lenken, den Sie erreichen wollen. Disziplin entspringt dem Herzen, nicht dem Kopf!

Erst kürzlich stand ich in einer Gesprächsrunde, bei der mein Gegenüber große Bewunderung für mich und meinen Erfolgsweg ausdrückte. Er fragte in die Runde: „Steffen, wie schaffen Sie das alles nur. Diese ständige Energie, der Stress, diese Erfolge, diese vielen Projekte die sie gleichzeitig meistern.“ Die Antwort glaubte eine Frau aus der Runde zu haben. „Der Steffen ist einfach unglaublich diszipliniert.“ Das ist richtig und zugleich falsch. Denn ja, ich lebe und arbeite sehr diszipliniert. Aber befragen Sie mal meine Eltern und Lehrer, über mein früheres Leben. Mein Motto in der Schule lautete: Der 4er ist der 1er des kleinen Mannes. Und so gestaltete sich auch mein schulischer Erfolg. Ich zitiere gerne eine Textstelle meines Zeugnisses aus der 3. Klasse (gerne hier zur Ansicht online): „Steffen arbeitete mit wechselndem Interesse. Konzentration und Ausdauer schwankten. … Bei mehr Arbeitseifer und größerer Aufmerksamkeit könnte er seine Leistungen durchaus steigern.“ Auf gut Deutsch: Liebe Eltern, ihr Sohn ist ein fauler, undisziplinierter Hund. Tun Sie was!

Meine Eltern versuchten viel, mit wenig Erfolg. Ich selbst tat dann eines Tages das einzig Richtige – nämlich beruflich meiner wahren Leidenschaft nachzugehen. Heute bin ich erfolgreich und ordne mein gesamtes Privatleben meinen Zielen und Träumen unter, ohne aber das Leben gleichzeitig aufzuhören zu genießen – ganz im Gegenteil. Muss mir jemand sagen, dass ich diszipliniert sein muss? Nein. Musste mir jemand Disziplin lernen? Nein! Der Schlüssel war, dass ich erkannt habe, was ich machen will (Leidenschaft) und auf welchem Level ich diese Begeisterung ausleben und umsetzen möchte (Ziel/Traum). Meine Disziplin kam automatisch als Folge dessen. Diszipliniert wirst du, wenn du täglich das tust, wofür du lebst und damit versuchst zu erreichen, wovon du träumst.

Vergessen Sie alle Strategien zur ständigen Selbst-Geisselung, die jedes Jahr aufs Neue schlau mit Worten und „neuen“ Techniken verpackt werden. Beginnen Sie sich zu fragen, was Ihre Mission im Leben ist, also wofür Sie hier auf dieser Welt sind. Was ist es was Sie wirklich begeistert? Wozu sind Sie berufen? Was könnten Sie alles erreichen, wenn Sie ab sofort täglich das tun, was Sie am liebsten machen, für Ziele die Sie inspirieren? Die Folgen sind Freude und Leistung – Leistungsfreude eben.
Und wie lernen Sie jetzt Techniken für mehr Disziplin? Gar nicht! Denn Disziplin muss nicht trainiert oder erlernt werden. Sie ist auch kein Heilmittel, sondern eine positive Nebenwirkung. Disziplintechniken brauchen Sie, um sich für eine Tätigkeit kurzfristig zu überwinden, die Sie nicht freiwillig tun würden. Und sowas führt, unabhängig von der Qualität der Technik, niemals zu nachhaltigem Glück oder Erfolg.

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Ein Gedanke zu „Mythos Disziplin – Warum Selbstdressur nicht zum Ziel führt

  1. Ich gebe dem AutorIn völlig recht, dass einem die Begeisterung am meisten bringt. Aber Du kannst ja nicht nur Dinge tun die dir Spass machen, daher kannst Du Dich doch auch in kleinen Schritten geiseln.

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